Das Tor zum Osten: Nichts als Plattenbauten und Gewalt? (*)
Es ist gar nicht so lange her, da schrieb ich über eine Fotoserie, die mir aus persönlichen Gründen sehr ans Herz ging: Es war die Reihe »Marzahn«, die der Fotograf Gerrit Engel Ende der Neunziger in eben jenem Berliner Ostbezirk aufnahm, dem bundesweit ein trauriger Ruf vorauseilte. Marzahn ist aber auch gleichzeitig meine Heimat und so lag es nicht fern, dass Engels Fotos, die Marzahn von einer bis dahin vielleicht unbekannten, viel harmloseren, vielleicht sogar schönen Seite zeigen, mich nicht nur ansprachen, sondern auch intensive Gefühle auslösten. Was dies im Einzelnen war, beschrieb ich ja bereits.
Vor Kurzem traf ich mich mit Gerrit Engel (der übrigens im vergangenen Jahr in der Pinakothek der Moderne ausstellte) auf einen Spaziergang durch Marzahn, wo ich ihm in einem Interview einige Fragen zu seiner Fotoserie und dem dazugehörigen Bildband stellte. Darin sind 82 hochauflösende Fotos mit drei einleitenden Texten von einer Marzahnerin, eines Bauhistorikers und Architekturkritikers enthalten. Ich verlose ein Exemplar des mittlerweile vergriffenen sowie ein weiteres Buch über Kunst im öffentlichen Raum in Marzahn — mehr dazu sowie natürlich das Interview gibt es jedoch erst nach dem Klick.
Gerrit Engel im Interview (*)
Hallo Gerrit, vielen Dank, dass du dich für dieses Interview bereit erklärt hast. Du warst vor elf Jahren hier und hast Marzahn abgelichtet, wie es damals war. Stell dich doch einfach mal kurz vor.
Ich bin Gerrit Engel, Geburtsjahr 1965, in Westdeutschland aufgewachsen und sozialisiert, habe Architektur und Fotografie studiert, arbeite als Fotograf und war 1999 das erste Mal in Marzahn. Zunächst wurde ich durch einen Sammler und Freund animiert, hierher zu kommen, der hier Häuser saniert hatte, weil dessen Firma für Betonbau und Sanierung hier beschäftigt war. Für den habe ich zunächst einige Umbaumaßnahmen dokumentiert und habe dabei den Bezirk kennengelernt und meine ersten Eindrücke gesammelt.
Was waren das für Eindrücke?
Das waren eigentlich positive Eindrücke. Ich kannte natürlich wie viele Leute, die noch nicht in Marzahn waren, den Bezirk vom Namen her. Man verband damit Vorstellungen von einer großen, unwirtlichen Plattenbausiedlung und hatte eigentlich erstmal das negative Image im Hinterkopf.
Was gehörte da genau dazu? Was prägte das Bild von Marzahn außerhalb der Bezirks- und Stadtgrenzen?
Natürlich die Probleme, die in allen Großsiedlungen vorherrschen, wie etwa die soziale Isolation, Gewalt, Verrohung: Die Effekte, die sich einstellen, wenn viele Menschen auf engem Raum leben. Dinge also, die ich mit anderen Großsiedlungen verband und dort auch kennengelernt hatte.
In deinem Bildband »Marzahn« erscheint der Bezirk für meine Begriffe in einem anderen Licht. Da ist nicht etwa das klischeeträchtige, grau in grau gehaltene Plattenbaugebiet zu sehen, da werden auch Personen und Szenen abgebildet, in denen Marzahn fast schon als kleines Idyll, als ein Ort dargestellt wird, wo man ein kleines, beschauliches Leben verbringen kann. Hast du das denn auch in dieser Art erlebt oder das ist nur mein persönlicher Eindruck?
Die Fotos, die ich dort gemacht habe, spiegeln in der Tat das wieder, was ich dort vorgefunden habe, was sich dann nicht mit dem Image der Großsiedlung Marzahn gedeckt hat: nämlich durchaus jene Qualitäten, die Marzahn damals hatte und auch immer noch hat, die sich auch in den Fotos widerspiegeln.
Mir ist aufgefallen, dass im Vergleich zu späteren Arbeiten von dir auch Personen auftauchen. Deine Serie »Berlin« kommt etwa ganz ohne Menschen aus. Welche Intentionen waren dafür verantwortlich?
Im »Berlin«-Projekt fokussiere ich nur auf diese Gebäude, isoliere sie aus dem städtischen Kontext und lasse sie wie Personen erscheinen, die sie für mich auch sind: Personen, die durch ihre Gestalt gereift sind und eine Persönlichkeit entwickelt haben. Marzahn dagegen habe ich als Siedlung wahrgenommen. Um zu sehen, wie alles zusammenhängt, waren die Menschen natürlich nicht auszuklammern. Ich habe in diesem Buch auch einzelne Gebäude herausgelöst, im Großen und Ganzen wollte ich jedoch mit einer zusammenhängenden Fotoarbeit einen Eindruck vermitteln, der diese Siedlung beschreibt.
Ohne Titel, aus der Serie »Marzahn«, © Gerrit Engel
Du hast mir auch im Vorfeld erzählt, dass du eine sehr lange Vorbereitungsphase hattest. Wie sah das aus, wie bereitet man sich auf ein solches Projekt vor, in dem man allen bereits bestehenden Klischees zum Trotz einen Ort wahrheitsgemäß darstellen will?
Ich hatte ja wie schon erwähnt bereits Berührungspunkte, so war ich schon einige Male hier, ohne das Fotoprojekt im Hinterkopf gehabt zu haben, wobei ich schon erste Eindrücke sammeln konnte und auch die ersten Bildideen bekommen hatte. Als sich dann dieses Buchprojekt, das von Anfang an solches geplant war, herauskristallisierte, habe ich auch versucht, Kontakt zu den Bewohnern herzustellen und sie auch kennenzulernen. Ich hatte dann über Freunde, die hier Leute kannten, den Kontakt hergestellt und Menschen gefunden, die das Leben hier repräsentierten.
Ich kann mir vorstellen, dass nicht alle Leute, die du in Marzahn getroffen hast, dein Projekt befürwortet haben. Da kommt zehn Jahre nach dem Mauerfall ein Wessi nach Marzahn und will — vielleicht argwöhnischen Stimmen zufolge — an alte Vorurteile anknüpfen. Wie fiel im Nachhinein die Resonanz aus, als die Fotos fertiggestellt und dann auch veröffentlicht wurden?
Das ist natürlich auch eine Sache der Perspektive. Für mich als jemand, der die DDR als Außenstehender erlebt hat, hatte dieses Land, an dessen Leben ich nicht teilnehmen konnte auch einen gewissen Reiz. Ich hatte auch durch meine Familie, die in Berlin und Ostberlin wohnte, ein Interesse an diesem anderen Leben und versuchte eine Vorstellung von diesem anderen Leben zu bekommen. Insofern habe ich mich auch für den ursprünglichen Zustand Marzahns interessiert. Zu dem Zeitpunkt, wo ich begonnen hatte zu fotografieren, war Marzahn im Umbruch begriffen. So begann man etwa, die Gebäude energieeffizient zu sanieren, was auch mit einem Verlust an Gestalt einherging, das heißt dass die Ablesbarkeit der Vorfertigung als Plattenbauten verloren ging, aus der ja auch eine gestalterische Qualität entstand und wo auch die Architekten versucht haben diese zu entwickeln. Man sah dies jedoch nicht so an, man sah das Bild nach der Sanierung als das Positive, das Erstrebenswerte und das, was dann in meinen Augen verloren ging, nicht als schön und erhaltenswert an. Das war wiederum etwas, was nach Erscheinen meines Buchs von Kritikern als etwas angesehen wurde, was in ihren Augen nicht als schön galt. Man hat dann auch vereinzelt vorgeworfen, dass ich als Westdeutscher doch gar nicht wisse, wovon ich spreche. Doch wie das so oft ist, hat man als Außenstehender vielleicht doch eine andere Perspektive, die manchmal auch hilfreich ist, um Dinge zu zeigen, für die andere Leute keine Augen mehr haben, wenn es dann zu spät ist und diese Dinge verschwunden sind und worüber man dann vielleicht doch froh ist, wenn jemand Außenstehendes sie festgehalten hat.
Das Haus, in dem aufwuchs, wie es heute aussieht
Als ich deine Bilder kürzlich sah, flammten in mir alte Erinnerungen auf, weil doch Dinge festgehalten wurden, die Marzahn beschreiben, wie es war und jetzt mitunter nicht mehr existiert. Wir sind jetzt schon eine ganze Weile durch den Bezirk gelaufen und du warst seit 1999 auch nicht nur einmal wieder hier. Wie würdest du denn die Entwicklung beschreiben, die du hast, wenn du jetzt, elf Jahre später durch Marzahn läufst?
Von der Bausubstanz hat sich diese Entwicklung natürlich fortgesetzt. Die energetische Sanierung ist vorangeschritten, überall wurden auf die Wände Wärmeplattenverbundsysteme aufgebracht. Auch auf die Giebelwände, die damals in meinen Augen sehr interessant gestaltet waren. Man hatte ja versucht, aus der Not eine Tugend zu machen und mit den wenigen Mitteln, die man vielleicht hatte, eine gestalterische Qualität zu erzielen. Das ist größtenteils verloren gegangen, man sieht im Grunde genommen nicht mehr den originalen Zustand der Gebäude. So gesehen hat sich das Bild Marzahns grundlegend geändert und sieht jetzt aus wie eine Großsiedlung in den alten Bundesländern auch. Das könnte genauso eine Siedlung eine Siedlung in Stuttgart oder Bremen sein. Das was mich interessiert hat, weswegen ich auch hergekommen bin, das Exotische, das gibt es nicht mehr, weil so wie die Wiedervereinigung viele Dinge egalisiert hat, hat sie diese Siedlung auch egalisiert. Das ist eine ganz normale Siedlung, jedoch mit vielen positiven Errungenschaften der Sozialstruktur, die sich hier erhalten hat. Nach wie vor leben hier viele soziale Schichten zusammen, um es platt zu sagen wohnt hier der noch der Busfahrer neben dem Professor. Dieser Pioniergeist, der hier sicherlich in der Bevölkerung vorhanden war, der durch den Mangel der ersten Jahre, etwa an öffentlichen Einrichtungen zustande kam, bewirkte, dass man sich hier zusammenfinden musste um den Bezirk zu verschönern und zu entwickeln; dieser Pioniergeist hat sich auch ein bisschen herübergerettet.
Auch Kunst im öffentlichen Raum war ein Thema (*)
Ist das nur ein Aspekt der Entwicklung, die du siehst, oder gibt es auch Punkte, die auch dein künstlerisches Herz erwecken, oder ist dieser Bezirk jetzt ein langweiliger Ort geworden (Gerrit lacht), aus dem diese künstlerischen Farbtupfer verschwunden sind?
Mich reizen natürlich immer noch diese Dinge. Wir sitzen jetzt gerade auf diesem Spielbrett aus Beton, was ein Stück Kunstwerk im öffentlichen Raum in Marzahn ist und was unsaniert und seinem Alter entsprechend ausschaut. Solche Orte wecken nach wie vor mehr als die neueren Dinge mein Interesse, die hier entstanden sind. Ich bin da eher auf der Spurensuche der sozusagen untergegangenen Gesellschaft. Diese Dinge interessieren mich mehr und haben auch eine gewisse Magie für mich.
Marzahn ist in den elf Jahren seit der Veröffentlichung deines Bildbandes ein großer Wandel widerfahren: Der Leerstand ist ein großes Problem, die Geburtenraten sinken und so werden auch immer mehr Gebäude abgerissen oder abgebaut. In Marzahn Nord gibt es ein Projekt, wo man die Bausubstanz soweit reduziert hat, dass ein überraschendes Ergebnis entstand: Auf einmal entstanden sehr wohnenswerte Gegenden im mediterranen Flair, die auch in der Fachwelt über die Grenzen Berlins hinaus eine hohe Resonanz erzeugt haben, und wahrscheinlich in Marzahn noch weiter aufgenommen und nachgeahmt werden.
Das Projekt, das du genannt hast, habe ich mir noch nicht angeschaut, insofern kann ich darüber nicht urteilen. Ansonsten stimmt es natürlich, dass diese Probleme, die in der heutigen Gesellschaft in solchen Großsiedlungen bestehen, natürlich auch hier entstehen. Die Menschen können sich ihren Wohnraum selbst suchen und es gibt auch anderswo in Berlin vergleichbar günstige Wohnungen, sodass es dieses klassische Problem von Großsiedlungen auch hier gibt. Wenn wir jetzt hier sitzen, weiß ich als Außenstehender allerdings nicht, ob sich so viel im Lebensgefühl geändert hat.
Ich war allerdings sehr von der Freundlichkeit der Leute beeindruckt, auch und gerade die Offenheit der Kinder. Soweit ich weiß, gibt es auch immer weniger Kinder hier. Als ich hier fotografiert habe, gab es sehr viele Kinder, die auch von überallher kamen und mich fragten, was ich da mache.
Ohne Titel, aus der Serie »Marzahn«, © Gerrit Engel
Du bist in der Zeit hier gewesen, als ich auch genau in dem Alter der auf den Fotos auftauchenden Kinder war. Ich war damals elf, zwölf Jahre alt und habe meine Kindheit auch auf diesen Fotos wiedererkannt. Diese Abbildungen riefen in mir schlummernde Erinnerungen wieder hervor, Erinnerungen an eine Kindheit, die sehr schön und unbekümmert war. Hattest du denn auch den Eindruck, dass Marzahn entgegen seines Rufs als sozialer Brennpunkt ein Ort war, wo Kinder ganz normal aufwachsen können?
Das war kein unwirtlicher Ort, der kinderfremd oder ungeeignet für Kinder war. Es gab ja auch viele Spielplätze, Sportplätze und Ähnliches, Domizile, die Kinder brauchen, um Kind zu sein. Diese Dinge trugen vielleicht auch dazu bei, dass diese Zeit rückblickend als eine schöne Kindheit betrachtet wird. Für mich war als Erwachsener nichts Negatives oder Kinderunfreundliches zu beobachten.
Abschließend interessieren mich noch deine aktuellen Projekte: Wo wird man dich demnächst sehen können?
Ich arbeite gerade an einem Buch über Schinkels Bauten in Berlin und Potsdam, das wahrscheinlich zur Buchmesse in Frankfurt erscheinen wird. Danach werde ich ein Buch über den Palast der Republik herausbringen, weil ich da in einem langen Projekt den Abriss dokumentiert habe und dies in einem Buch zusammenfasse. Daneben gibt es noch vier Ausstellungsprojekte, die mich in nächster Zeit erwarten.
Wird man dich auch in Ausstellungen in Berlin wiedersehen können?
In Berlin nicht, jedoch in Leipzig. Am 9.11. wird es in der Spinnerei eine große Gruppenausstellung mit Berliner und Leipziger Künstlern geben. Dann habe ich in September in Madrid und in November in Rotterdam und in München eine Ausstellung.
Dann danke ich dir vielmals für das Interview, für dein Kommen nach Marzahn -
Bitte schön! (er lacht)
Vielen Dank!
Zur Verlosung
Verlosung: Bildband Marzahn und Katalog über Kunst im öffentlichen Raum in Marzahn-Hellersdorf
Den gegebenen Anlass will ich nutzen und jeweils ein Exemplar von Gerrit Engels mittlerweile vergriffenem Bildband »Marzahn« (Fotos daraus gibt es ja im obigen Text, sowie hier und hier) und einen Katalog über Kunst im öffentlichen Raum in Marzahn-Hellersdorf verlosen. Schreib dazu einfach bis zum 15. September einen Kommentar mit einer gültigen E‑Mail-Adresse und gib deinen Wunsch für eines der Bücher an!
* Entschuldigt bitte, dass die Fotos hier im kitschigen Schwarz-Weiß erscheinen. Ich vergaß leider, den SW-Modus meiner Kamera auszustellen.
Hey, ich würde mich sehr über den Bildband freuen!
Liebe Grüße, Sara
Faszinierend, was gut Fotos (und ihr Fotograf) in der Alltagswelt finden!
ICH WILL DEN BILDBAND…BITTÖÖÖ
was muss ich denn machen um den bildband von meiner heimat zu gewinnen?
Mit deinem Kommentar ist schon alles getan… 😉
ich wünsche mir den Bildband!
…als gebürtiger Marzahner-Jung würde ich mich sehr über diesen Bildband freuen! Im Übrigen ein sehr gelungener Artikel!
Viele Grüße,
Alex
Tolles Interview!
Da ich mich berufsbedingt viel mit Kunst in der DDR und sozialistischem Realismus auseinandersetze, würde ich mich sehr über den Katalog freuen!
Viele Grüße,
Julia S.
das fotobuch wär echt nice. jan.
hi, ich würde mich sehr freuen, wenn bald der bildband auf meinem tisch liegen würde! 😉
hier hier hier bildbaaaand! 🙂
ich brauche noch ne anregung für meine dissertation 😉
Ich hätte sehr gerne den Bildband- Kunst in der Großsiedlung hab ich schon. Wir (Architekten) hatten Anfang diesen Jahres ein temporäres Atelier in Marzahn für drei Monate- und zwar genau in dem Bau mit dem Mosaik auf dem fünften Bild von oben. 360qm und Miete waren nur die Betriebskosten. Was sich als eines der größten Probleme vor Ort — aus unserer Sicht- dargestellt hat, war das Eastgate- ein riesiger Einkaufstempel, der die ganze anschliessende Promenade leersaugt. Klar gibts da alles und das Ding ist gut besucht, es schränkt aber auch eine mögliche Vielfalt extrem ein, da nur die typischen Mallgeschäfte vertreten sind. Das hat sich besonders beim Mittagessen gezeigt- Mc D oder Pizzahut oder irgendeine andere fettige Masse. Es gab einfach keine Altenativen.
Ich würde mich über den Bildband freuen. Dann kann ich darin schmökern bis ich es schaffe in meiner deutschen Traumstadt zu wohnen.
Einmal den Bilband zum mitnehmen bitte. Danke auch.
ich brauche noch ein buch für eine lücke in meinem regal. da würde das fotobuch ganz gut reinpassen.
Gewinner des Bildbandes ist Alex! Gewinnerin des Kataloges ist Julia (übrigens die einzige Kandidatin dafür). Glückwunsch! 🙂 Ihr habt ne Mail!